Schweizer Sage

Das Guetigs'heer am Aarauer Homberg

Der Weidgang im Aarauer Jura hat sich schon im vorigen Jahrhundert verloren, nur im benachbarten Solothurner Jura ist er nach alter Weise zum Teil noch üblich. Früherhin aber trieb man des Abends das Vieh, nachdem es gemolken war, wieder auf die Bergwiesen zurück und ließ es unter der Hut von Knaben die Nacht über draußen. Es lauerte da in jedem Gebüsche, wo es vor den Fliegen Ruhe fand, und die Hüter schliefen in den zahlreichen Heuhäuschen. Ein solcher Hirtenbube hütete einst um die Zeit der Ernte auf dem Aarauer Homberge und wurde nach Mitternacht durch ein schönes Singen und Spielen aus seinem Schlafe geweckt. Er meinte, die Schnitter im Tale zögen so spät unter fröhlichen Liedern noch durch die Gegend. Bald aber kam es immer näher herauf, ging aus Westen nach Norden hin eine Musik, an der kein einziges Instrument fehlte. Sogar aus den Lüften brach ein leiser Gesang darein, der ihn durchschauerte. Es schien ihm, als ob das Gras der Matten und das Laub der Buchenwälder im Mondlichte woge und sich neige, so oft die Töne neu ansetzten. Der Turmwächter drüben in der Stadt blies schon zwei Uhr an, als die Musik sich wieder verlor. Diese Musik wird im Aarauer und im nächsten Teile des Fricktaler Jura s guetigs G'heer genannt und Guenishirt derjenige, der sie anführt. Die Voreltern haben sie oft gehört und wußten viel darüber zu sagen. Es ging auf dem linken Aarufer stets in der Richtung von West nach Ost und verkündete ein gesegnetes Jahr. Wenn es von der Schafmatt durch das hintere Tal von Küttigen gegen Lenzburg hinüber zog, hörte man ein Klingen und Tönen in der Luft wie von tausend Instrumenten. Im Dorfe Küttigen nennt man es noch das Glücksheer; auch von schlechter und unharmonischer Musik jedoch pflegt man gleichnissweise zu sagen, sie gehe wie das Guetisheer. Das ist Guetigsg‘heer (das ist ein schlechter Gesang) ist eine gewöhnliche Phrase in Küttigen. Nicht bloß in den Hundstagen, auch in der Fasnacht zog es einher, und die Bauernregel besagt in Anwendung darauf: So viel Sterne als in der Alten Fasnacht am Himmel stehen, so viel Schnitter gibt's in der Ernte. Das Volk um Lütwil sagt, man höre das Guetis und Guenischheer außerordentlich schön singen, so oft es ein fruchtbares Jahr geben soll, Gunisheer nennt man dasselbe um Birmensdorf an der Reuß; Guetis-Ee aber nennt man zu gleich im Freienamte das Wilde Heer, dessen Rauschen durch die Lüfte man dorten dem Flügelschlage mächtiger Raubvögel und Wildgänse zuschreibt.

Aus: E. L. Rochholz: Schweizersagen aus dem Aargau. Bd. 1, S. 91.
Parabla 2015-01