Chinesisches Märchen

Der Krötenkaiser

Es war einmal ein Ehepaar, Mann und Frau, beide über sechzig Jahre alt. Sie hatten keine Kinder und waren deshalb traurig. Regelmässig gingen sie zum Tempel, um zu beten, aber der Erfolg blieb aus. Eines Tages sagten sie zum Tempelgott: «Selbst wenn wir eine Kröte als Kind bekämen, wären wir zufrieden.» Der Tempelgott war einverstanden.
Sie gingen flink nach Hause und stiegen in ihr Ehebett. Wirklich war die Frau bald schwanger, und sie gebar tatsächlich eine Kröte. Gleich hüpfte das Tier herum, und eines Tages sagte es «Vater» und „Mutter» zu den alten Leuten. Sie starben beinahe vor Schreck! Schliesslich hatten sie auf einen Sohn gehofft, und was sie hatten, war ein Kröterich! Am besten wäre es, das Tier zu töten. Nun aber bat der Kröterich, ihn aufzuziehen. Nach zwei Jahren schon würde er erwachsen sein und könnte seinen Vater ständig begleiten. Also zogen sie ihn auf.
Eines Tages war am Stadtwall ein kaiserlicher Aufruf: Die Nordbarbaren seien dabei, nach Süden einzufallen; wer sie besiegen könne, werde reich belohnt und bekäme ausserdem eine Prinzessin zur Frau. Kaum war der Vater mit dem Lesen fertig, als der Kröterich hochsprang und das Plakat abriss, zum Zeichen, dass er der Aufforderung nachkommen wolle. Ein Beamter führte ihn zum Kaiser, den bat er um fünfhundert Mann, ein grosses Pferd und ein schönes Schwert. Dann ritt der Kröterich nach  Norden. Die Nordbarbaren rückten näher mit ihrem Heer, aber als sie eine Kröte zu Pferd sahen, waren sie verwirrt. Der Kröterich nutzte diesen Umstand, stürzte vor mit seinem Schwert und erschlug alle Nordbarbaren. Nach diesem grossen Sieg kam der Kröterich zurück und wurde kaiserlicher Schwiegersohn.
Bald aber war der Kaiser auf ihn böse, weil der Kröterich gern auf den Kaiserthron sprang und da sitzen blieb, was hässlich anzusehen war. Da befahl der Kaiser, das Tier zu töten. Aber die Prinzessin, also des Kröterichs Frau, war dagegen. Sie erzählte ihrem Vater, dass der Kröterich nachts seine Haut ablege und zu einem schönen Jüngling werde; sie habe sich in ihn verliebt! Der Kaiser glaubte ihr kein Wort, und deshalb kam er in der nächsten Nacht, zusammen mit der Kaiserin, heimlich in das Zimmer der Prinzessin, um nachzusehen. Und wirklich, da hing die Krötenhaut am Bett! Vorsichtig nahm er sie und begann sie anzuziehen. Es war nicht einfach, und er brauchte Hilfe von der Kaiserin. Schliesslich hatte er sie an, aber jetzt erwies es sich als unmöglich, sie wieder auszuziehen.
Am andern Morgen nahm die Prinzessin ihres Vaters Kaisermantel und gab ihn ihrem Gatten. Er zog ihn an und ging damit zu Hofe. Der alte Kaiser, als Kröterich, hüpfte fort ins Gebirge.

W. u. A. Eberhard: Südchinesische Märchen. Diederichs Verlag: Düsseldorf, 1976. Bearbeitet von Linde Knoch in: Praxisbuch Märchen, Gütersloher Verlagshaus, Güterslohn 2001
Parabla 2016-02